Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Wie alles begann

Prof. Dr. Christa Schlenker-Schulte

Das Ambulatorium Sprachtherapie wurde 2007 von Frau Prof. Dr. Christa Schlenker-Schulte gegründet. Anlässlich der Eröffnung am 6. Juli 2007 sprach sie über die Hintergründe der Einrichtung des Ambulatorium Sprachtherapie an der Universität (Auszüge):

"Ambulatorium Sprachtherapie – Konzeption im Spannungsfeld von Versorgung, Lehre und Forschung

Warum ein Ambulatorium Sprachtherapie? Hintergründe

Diese gibt es in meiner Berufstätigkeit.

Die Lehrerin

Als Lehrerin für Sprachheil- und Gehörlosenpädagogik war ich mit einem Teil meines Deputats in der ambulanten Sprachheilpraxis tätig. Ich habe Sprachheilkurse gegeben, war teilweise an Kindergärten, an Grundschulen, an Förderschulen – damals hießen sie noch Sonderschulen – auch an Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung oder Mehrfachbehinderung. Ein Teil dieses Deputats war auch dafür da, in ambulanter Tätigkeit an der Schule zu sein. Also Kleingruppen kamen an die Schule. In Einzeltherapie, in Kleingruppen wurde an der Stammschule Sprachtherapie unterrichtet.

Die Dozentin

Aus meiner Erfahrung als Dozentin an verschiedenen Logopädenschulen in Heidelberg und Darmstadt weiß ich die praktische Erfahrung zu schätzen, die in der Logopädenausbildung impliziert ist: Von Anfang an gehört praktische Erfahrung dazu. Konkrete Fragestellungen aus der komplexen Praxis konnten in Theorie umgesetzt werden, konnten reflektiert werden. Umgekehrt konnte theoretisches Wissen in die Praxis gebracht werden, in der Praxis überprüft werden. Die Universität war bisher qua Auftrag theorielastig.

Die Hochschullehrerin

Während meiner Tätigkeit als Hochschullehrerin in Heidelberg und Halle – vor meiner Berufung – musste ich Erfahrungen machen und sehen, dass Studierende zwar mit der Theorie gut umgehen konnten, Fachtermini beherrschten, aber wenn es um die Umsetzung ging, die Anwendungen, das Abwägen von Vor- und Nachteilen eines bestimmten theoretischen Modells, bezogen auf einen konkreten Fall, auf ein konkretes Problem, gab es Schwierigkeiten. Fit for life, also berufsfähig, waren solche Studierenden nicht, aber es gab ja noch die zweite Phase - das Referendariat. Doch - so die Erfahrung aus Heidelberg - wurde den Referendaren angeraten, das theoretisch Gelernte zu vergessen und sich nun auf die Praxis zu konzentrieren – ein schlechter Ansatz, wie ich meine.

Die Forscherin

Als Forscherin bin ich mehrfach – quer durch die Republik – auf große Verunsicherung, Unsicherheit, Scheu, ja manchmal sogar Angst bei LogopädInnen und PädagogInnen gestoßen, wenn es darum ging, Einblicke in ihr pädagogisches und therapeutisches Handlungsfeld und ihren Alltag zuzulassen. Wenn es um kriteriengeleitetete Beobachtungen ging oder um Videodokumentationen aus der Praxis, wurden zunächst die Kinder vorgeschoben – man könnte ihnen diese Belastung nicht zumuten. Die Erfahrung zeigte aber, wenn es zu Videodokumentationen kam, waren Kinder immer interessiert an der Technik, immer interessiert an einem Blick durch die Kamera und immer stolz darauf, als Akteure vor der Kamera sein zu können. Es waren nicht die Kinder, nicht die Eltern, sondern es waren die Pädagogen mit ihrer Scheu, Einblicke in ihre Praxis zuzulassen.

Ein Ambulatorium Sprachtherapie mit Krankenkassenzulassung – warum und für wen?

Erste Antwort:

Aspekt Versorgung. Versorgung der Versicherten – das ist die Aufgabe mit Zulassung.

Das Ambulatorium erbringt eine Dienstleistung, eine Dienstleistung im Rahmen der Heilmittelrichtlinien. Das ist etwas Ungewöhnliches für Pädagogen.

Wir sind zur Abgabe sprachtherapeutischer Leistungen berechtigt, und zwar ambulant. Wir sind verpflichtet zu Maßnahmen der Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit bei Menschen mit Sprach-, Sprech-, Redefluss- und Stimmstörungen, zu Maßnahmen zur Verbesserung der Kommunikation von Menschen ohne verständliche Laut- und Schriftsprache. Damit ist das Ambulatorium Sprachtherapie ein reales Handlungsfeld rehabilitationspädagogischer Arbeit ...

Ich zitiere: "Haben Kinder Probleme mit der Lautbildung zum Beispiel Lispeln bzw. der Wortfindung, verdrehen sie Wörter im Satz oder haben sie eine schwerverständliche Aussprache, kann ihre Sprachentwicklung gestört sein. Dann profitieren sie von gezielten Übungen bei einem Sprachtherapeuten bzw. Logopäden. Erwachsene benötigen sprachtherapeutische Hilfe zum Beispiel bei hochgradiger Schwerhörigkeit, nach einem Schlaganfall oder wenn Kehlkopf und Stimmbänder durch eine Krebserkrankung oder eine Tumorerkrankung in ihrer Funktion beeinträchtigt wurden." So die Antwort für Versicherte, beispielsweise der IKK.

Was sind konkret die Aufgabenstellungen im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung?

Zu den Aufgaben im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung gehört Diagnostik, Therapie, Information, Beratung für die Betroffenen, aber auch Information, Beratung und Schulung der Angehörigen, Behandlung von Funktionseinschränkungen der Kommunikation in Einzel- oder in Gruppentherapie, Prävention und Rehabilitation. Soweit die Seite der vertragsärztlichen Versorgung.

Was ist die Aufgabe im Förderschwerpunkt Sprache und Kommunikation?

Auch da haben wir individuelle Diagnostik, Beratung, Therapie oder ein neues Wort: Förderung, Prävention, Frühförderung, Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe, beispielsweise barrierefreie Information. Damit sind wir beim Aspekt Lehre, Lehre in der Fachrichtung Sprachbehindertenpädagogik.

Lehre in der Fachrichtung Sprachbehindertenpädagogik

Berufsfähigkeit ist seit Bologna und den Modularisierungsbestrebungen in aller Munde. Was aber heißt Berufsfähigkeit für die Lehrbefähigung, für das Lehramt an Förderschulen für Sprachentwicklung?

Lernprozesse in der Schule erfolgen dominant über Sprache. Das genau ist der kritische Punkt. Deshalb steht die schulische Arbeit bei Kindern und Jugendlichen mit Sprachstörung ganz unabhängig vom Förderort vor der Notwendigkeit, Unterricht und Sprachtherapie miteinander zu verbinden. Es müssen zuerst die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass Bildungsprozesse überhaupt funktionieren. Das Ziel ist, den Förderbedarf Sprache und Kommunikation möglichst schnell aufzuheben, möglichst schnell Teilhabe zu ermöglichen, denn nur dann haben Kinder optimale Voraussetzungen für Schule und Beruf.

Die Studierenden der Fachrichtung Sprachbehindertenpädagogik im Lehramt an Förderschulen müssen darauf vorbereitet werden, die sogenannte Dualismus-Problematik zu meistern, zum einen Unterricht, zum anderen Therapie, Einzel- und Gruppentherapie, teilweise auch realisiert als Therapieintegration. Das Schulgesetzdes Landes Sachsen-Anhalts sieht vor, dass – ich zitiere – "für Schülerinnen und Schüler an Förderschulen nach Maßgabe dieses individuellen Förderbedarfs spezifische therapieorientierte Unterrichtsbestandteile vorgehalten werden" können. Spezifische therapieorientierte Unterrichtsbestandteile sind für Kinder mit gravierenden Sprachentwicklungsstörungen sehr, sehr wichtig und unabdingbar für ihre Entwicklung.

Das Ambulatorium Sprachtherapie erfüllt hinsichtlich der späteren Berufsfähigkeit der Studierenden mit der Fachrichtung Sprachbehindertenpädagogik zwei Hauptaufgaben: Zum einen die Vorbereitung auf die Schullandschaft in Sachsen-Anhalt. Was gehört dazu? Das Lehramt an Förderschulen für Sprachentwicklung und Wahrnehmung von Aufgaben, die sich aus der Einrichtung der Förderzentren ergeben, und das sind andere Aufgaben, die wahrgenommen werden müssen, die zusätzlich wahrgenommen werden müssen. Es müssen Präventionen, mobile ambulante Angebote verstärkt angeboten werden. Es muss verstärkt Beratung und Diagnostik angeboten werden. Und es muss Begleitung beim gemeinsamen Unterricht erfolgen. Die zweite wichtige Aufgabe: Vorbereitung auf Tätigkeit in sprachtherapeutischer Praxis bzw. an Einrichtungen der Behindertenhilfe. Das ist ein Tätigkeitsfeld, in dem unsere Diplomer arbeiten. Diplomer, die es noch immer gibt, die wir noch mindestens 4 Jahre haben, bis wir dann nur noch modularisierte Studiengänge haben. Diplomer, die sich für die Richtung Rehabilitationspädagogik mit dem Schwerpunkt Sprachbehindertenpädagogik entscheiden, ist klar: Ich will in eine Praxis!

Aber es gibt noch einen anderen Aspekt:

Therapieforschung * habe ich das einmal genannt – was daraus wird, weiß ich nicht. Therapieforschung kann sich zu einer Keimzelle im Bereich der erziehungswissenschaftlichen Rehabilitationsforschung im Bereich Sprache und Kommunikation entwickeln. Zunächst werden es erste kleine Therapiestudien sein, vielleicht weiterentwickelt zu Längsschnittstudien. Evidenz-basierteTherapieansätze sind inzwischen auch in der Sprachbehindertenpädagogik und der Sprachtherapie gefordert. Dabei wird die Schnittstellenproblematik, die Notwendigkeit interdisziplinärer Vernetzung sicherlich auch weiterhin für ein lebendiges Miteinander in der Arbeit sorgen. Mit dem Forschungsverbund Rehabilitationswissenschaften Sachsen-Anhalt/Mecklenburg-Vorpommern – so hieß es früher, inzwischen heißt er Sachsen-Anhalt/Thüringen – mit dem Forschungsverbund für Rehabilitationswissenschaften und meinem An-Institut FST hat das Ambulatorium Sprachtherapie im Bereich Forschung starke Partner. Das Ambulatorium Sprachtherapie steht am Start. Deswegen kann sich alles auch anders entwickeln.

Wir freuen uns auf die Herausforderungen, die es geben wird, auf die Herausforderungen Lehre, Forschung und Versorgung zu vernetzen.

Wir freuen uns auf die Herausforderung für Studierende und für Menschen mit Kommunikationsstörungen im Bereich Sprache, Hören, Sprechen als Dienstleister zur Verfügung zu stehen, und wir freuen uns darauf, gute Arbeit leisten zu können...."

(Auszüge aus: SCHLENKER-SCHULTE, Christa (Hrsg.) (2007): Sprachtherapie an der Universität. Dokumentation der Eröffnung des Ambulatoriums Sprachtherapie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Neckar-Verlag: Villingen-Schwenningen. S. 69-95.


Frau Prof. Schlenker-Schulte hatte bis 2016 auch die Professur für Sprachbehindertenpädagogik am Institut für Rehabilitationspädagogik, Philosophische Fakultät III - Erziehungswissenschaften inne und war und ist die Leiterin des An-Instituts Forschungsstelle zur Rehabilitation von Menschen mit kommunikativer Behinderung (FST)    e. V. an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Im Ambulatorium Sprachtherapie wurden in Zusammenarbeit mit der Forschungsstelle FST    und anderen Einrichtungen Forschungsprojekte zu sprachtherapeutischen und rehabilitationspädagogischen Forschungsfeldern durchgeführt.

Aktuell wird aus dem großen Spektrum der FST-Forschung in Kooperation das Projekt "DIALOG   " weitergeführt.

Kooperationen gibt es auch bei gemeinsamen Veranstaltungen im Rahmen der von Aktion Mensch geförderten Veranstaltungen zum Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung (mehr hier).

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